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Auch wenn die Forschung in den letzten Jahren das Bild des Holocaust und der allgemeinen Geschichte des nationalsozialistisch und bis 1941 sowjetisch besetzten Polens wesentlich differenzieren konnte, ist das Setting in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor vergleichsweise manichäisch: Auf der einen Seite stehen die sowjetischen und nationalsozialistischen Besatzer, auf der anderen Seite die unterdrückten polnischen Staatsbürger, wobei immer wieder eine höchst unselige Rangliste aufgemacht wurde, die das Leiden der jüdischen und nichtjüdischen Opfer zueinander gewichtete. Dies schloss die weit verbreitete These ein, es könne als sicher gelten, dass nach der vollständigen Ermordung der Juden die Polen denselben Methoden der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen seien. Nicht minder problematisch fällt die übliche Engführung der polnisch-jüdischen Beziehungen unter deutscher Besatzung aus: Die Deutschen kamen und haben die Juden weggeholt, die Polen dagegen waren lediglich passive Zeugen der Verbrechen. Auch wenn einzelne Arbeiten vorliegen, die sich der (städtischen) Alltagsgeschichte, namentlich in Warschau, während der Besatzung widmen [1], so ist nach wie vor so gut wie unbekannt, wie denn - rechnet man die Widerstandsbewegung und die Kollaborateure einmal ab - die ganz überwiegende Mehrheit der polnischen Bevölkerung im Generalgouvernement zwischen 1940 und 1944 ihr Leben gelebt und gestaltet hat. Unbestritten ist, dass der Alltag von Terror geprägt war, von Deportationen zur Zwangsarbeit im Reich, Geiselerschießungen, Zwangsumsiedlungen etc. Daneben muss aber auch die Frage nach der vermeintlichen >Normalität< unter fremder Herrschaft, nach der Arbeit, den Lebensbedingungen, sozialen Beziehungen und ihrem Wandel gestellt werden. In das überkommene Bild der Besatzungszeit platzte nun im Februar 2011 der von Jan Tomasz Gross entfachte Bilderstreit hinein, der erahnen lässt, dass die Realität des Generalgouvernements (und auch der Jahre nach 1945) ganz augenscheinlich komplexer war als gerne angenommen. Zum Ausgangspunkt ihres historischen Essays nehmen Gross und Grudzińska-Gross ein Gruppenfoto polnischer Bauern, vor denen Knochen und Totenschädel aufgeschichtet sind, aufgenommen nach 1945 auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Treblinka II. Nach dem Ende der Vernichtung setzte dort, in Bełżec, Sobibór, Chełmno und anderenorts eine Art Goldgräberstimmung ein, in der die Ortsbevölkerung und Angereiste die Leichengruben auf der Suche nach Wertgegenständen durchsiebten, welche die Deutschen übersehen hatten. Es handelt sich um kein zufällig entstandenes Bild, wie die im Vordergrund gekreuzten Oberschenkelknochen vor einem Totenschädel verraten. Eine Lesart, wonach christliche Polen einem devastierten Massengrab die Totenruhe zurückgeben, ist schon bei flüchtiger Ansicht sicher auszuschließen. [2] Das Interessante und zugleich Aufschlussreiche an der Debatte um das Bild bzw. um das Gross'/Grudzińska-Gross' Buch ist, dass den Autoren vorgeworfen wird, sie legten dem Bild eine falsche Interpretation bei, gäben also vor, genau zu wissen, was es darstellt. Die Kritik begeht jedoch denselben Fehler, indem sie postuliert, genau zu wissen, was das Bild nicht zeigt (nämlich den von Gross/Grudzińska-Gross für wahr gehaltenen Entstehungskontext). Das eine wie das andere, erst recht aber beide Seiten zusammengenommen, geben beredtes Zeugnis davon, wie schwierig die historische Bildinterpretation mit Bezug auf den Holocaust nach wie vor ist. Diese Kritik geht aber an dem Buch vorbei, denn das Foto dient nur als Leitmotiv - die Autoren interessiert, was sich - so auch der Untertitel - am Rande des Judenmords ereignete. Es geht um nicht weniger als die - auch für den Holocaust - ganz grundsätzliche Frage, wie sich das Wissen über das Schicksal einzelner in ein Wissen über die Epoche transformieren lässt. Wie kann episodisches Wissen dabei helfen zu verstehen, was insgesamt geschah? Dies illustrieren Gross/Grudzińska-Gross nun am Beispiel des Eigentums von Juden und seines Besitzerwechsels im Verlaufe der Besatzung bzw. des Holocaust. Juden wurden - zumal auf dem Lande - immer schon mit Geld und Gold assoziiert, und bekanntlich war Franz Stangl, der Kommandant von Treblinka II, noch dreißig Jahre später davon überzeugt, dass es den Nationalsozialisten beim Holocaust in erster Linie um das Geld der Juden gegangen sei. Ganz ohne Zweifel kam es in den Jahren zwischen 1939 und 1945, besonders aber 1941-1943 zu erheblichen "Umverteilungen", deren Umfang viel größer war als bislang angenommen: "Eines Tages wachten wir im Dorf auf, und alle hatten jüdische Sachen an." [3] Die Gier nach des Nächsten Besitz soll schließlich auch für "Tausende und Abertausende" von Juden (so Jan Grabowski im Vorwort zu Gross'/Grudzińska-Gross' Band) den Tod bedeutet haben, die von ihren polnischen Nachbarn entweder eigenhändig ermordet oder den Deutschen überantwortet wurden. Diese "Umverteilung" fand dann nach 1945 ihre Fortsetzung bei Plünderungen, bei denen in ehemaligen Vernichtungslagern in Einzelfällen wohl sogar Sprengstoff eingesetzt wurde (von sowjetischen Soldaten). Beobachter, die diese Orte in den Jahren nach 1945 besuchten, schrieben wiederholt von mondähnlichen Kraterlandschaften. Gross/Grudzińska-Gross haben ein sensibles Gespür für Details, etwa für den Nachkriegs-Neologismus "pożydowski", der in Verbindung mit Wertgegenständen auf die früheren jüdischen Eigentümer verweist und dem in dieser Verwendung nur noch "poniemiecki" (Eigentum, dass die Deutschen nach 1945 in den später polnischen Gebieten zurückließen) an der Seite steht. Wie sind aber überhaupt die Handlungsspielräume der Polen in diesem Zusammenhang zu erklären? 1942 und erst recht in den folgenden Jahren waren Teile des Generalgouvernements nicht mehr uneingeschränkt unter deutscher Kontrolle, zumindest jedoch wegen der polnischen Widerstandsbewegung ein für die Deutschen zunehmend gefährliches Terrain. Die Frage ist freilich, warum die Besatzung dennoch funktionstüchtig geblieben zu sein scheint und warum es ausreichte, dass das Besatzungsregime nur unregelmäßig intervenierte: Auf der untersten Ebene blieben aber der Dorfschulze und der Gendarmerieposten bzw. die polnische, sogenannte Blaue Polizei, oftmals die nächsten Exposituren der Besatzungsmacht. Zumindest ist es nicht selbstverständlich, sich auf den Umstand einzulassen, dass es im Generalgouvernement während des Holocaust Räume gab, in denen Polen und Juden weitgehend unter sich waren und in denen die von Gross (und Grabowski und Engelking) beschriebenen Verbrechen stattfanden. Wie sehr dies innerhalb der polnischen Bevölkerung ausgehandelt wurde, lässt sich schon an der Frage der Identifikation von Juden illustrieren. Die Deutschen mochten die Insassen von Ghettos und Lagern deportieren und ermorden, versteckte Juden auf dem Lande aufzuspüren, geschweige denn zu identifizieren, gelang ihnen - abgesehen von Zufällen oder systematischen Razzien - ohne die Hilfe der Einheimischen aber nur selten. Gross/Grudzińska-Gross treibt jedoch noch etwas anderes um: Es sind nicht nur die Morde und die im wörtlichen Sinne fatalen Dorfstrukturen, die dazu führten, es ist das jahrzehntelange Negieren der eigenen Beteiligung und - schlimmer noch - die Behauptung des Gegenteils, so als habe sich "das polnische Dorf" gleichsam geschlossen dem Holocaust entgegengestellt. Natürlich, so die verbreitete Sichtweise, waren schon rein statistisch einige wenige kollaborationsbereite "Psychopathen" zu erwarten, sie fielen aber nicht ins Gewicht. Doch der bemerkenswerte neue Befund zeigt dagegen das weitgehende Versagen eines sozialen Beziehungsgeflechts, einschließlich der wichtigsten moralischen Instanz, die in Gestalt der Dorfpfarrer einen erheblichen Einfluss auf diese Exzesse hätte ausüben können - und es offenkundig nicht tat: Die "Katholische Kirche war der große Abwesende während der Vernichtung der polnischen Juden" (S. 183). Dennoch fällt die Lektüre von Gross/Grudzińska-Gross zwiespältig aus: Es fällt schwer, das Werk als Fachbuch ernst zu nehmen, denn Archivrecherchen sind der Autoren Sache nicht; im übrigen ist die Grundlage ihrer Ausführungen zu schmal oder - anders formuliert - sind die Schlussfolgerungen an verschiedenen Stellen wohl zu forsch. Angesichts der durchweg äußerst schlechten Versorgungslage im Generalgouvernement kann man die Aneignung jüdischen Eigentums durch die polnische Ortsbevölkerung (die Konten der SS- und Polizeiführer füllten sich auch durch Verkäufe sogenannten "Judenguts") wohl kaum mit den Auktionen gleichsetzen, wie Frank Bajohr und Saul Friedländer sie für Hamburg während des Krieges beschrieben haben. Auch methodisch lässt das Buch zu wünschen übrig: Während der Verweis auf Adornos Minima moralia nicht fehlt, wird bei den nicht vollends überzeugenden Versuchen einer "dichten Beschreibung" Clifford Geertz nicht einmal erwähnt. Immerhin stellen Gross/Grudzińska-Gross selbst klar, dass der über den Holocaust wohlinformierte Leser nicht viel Neues entdecken wird, und an mehr als einer Stelle stellt sich denn auch ein Déjà-vu aus älteren Büchern ein.[4] Insofern ist der Essay beides: ein für den fachlich Interessierten enttäuschendes, gleichzeitig jedoch lesenswertes Buch - es hat letztlich viel eher den Charakter eines gesellschaftlichen "Therapeutikums", als dass es eine neue Seite der Forschung aufschlüge: "Das Trauma bleibt und verlangt nach Ausdruck. Denn das Schreckliche bleibt so lange ein Schrecken, solange es nicht beim Namen genannt wird" (S. 23). Empirisch ungleich gewichtiger sind die zwei anderen Bände von Jan Grabowski und Barbara Engelking, wobei alle drei Bücher einer sehr ähnlichen Thematik - den polnisch-jüdischen Beziehungen im Generalgouvernement 1939 bis 1945 - gewidmet sind, so dass auch wegen ihres beinahe gleichzeitigen Erscheinens im Frühjahr 2011 zu fragen ist, worin genau die Unterschiede und Parallelen liegen; dass sie einander ergänzen, steht außer Frage. Grabowski und Engelking, so ließe sich zusammenfassend sagen, kompensieren zudem die schmale Materialbasis, mit der Gross und Grudzińska-Gross operieren, so dass sich Parallelen ergeben, die nicht zuletzt auch das Resultat gemeinsamer Überlegungen gewesen sein dürften. Auch Jan Grabowski widmet sich einem spezifischen Terrain - dem polnischen Dorf und seinen Bauern einerseits und den sich 1942/1943 versteckenden Juden andererseits - und untersucht die Handlungsspielräume und präferenzen der deutschen Jäger sowie der polnischen Akteure. Das Aufspüren versteckter Juden gehörte zu den zentralen Aufgaben der deutschen Gendarmerie- und Polizeieinheiten im Generalgouvernement, und an der Jahreswende 1942/1943 war es - darin ist Grabowski wohl Recht zu geben - sogar die allerwichtigste. Diese jagdähnlichen Razzien, die immer auch eine Interaktion mit der polnischen Bevölkerung bedeuteten, untersucht Grabowski konkret am Landkreis Dąbrowa Tarnowska im Distrikt Krakau im Generalgouvernement. Auf welche Weise, fragt Grabowski, erfuhren die Deutschen nach der Räumung der kleinen Landghettos, wohin sie zu fahren hatten, um die noch versteckten Juden aufzuspüren, und welche Begleitumstände führten dazu, dass die Ergreifung und Ermordung versteckter Juden so erschütternd effizient war? Exzellent geschrieben und ungleich kohärenter strukturiert als Gross/Grudzińska-Gross, geht Grabowskis Studie als pars pro toto einer Thematik nach, deren unheilvolle Bedeutung bereits der jüdische Historiker Emanuel Ringelblum beschrieb, als er 1943/1944 in seinem Warschauer Versteck seinen berühmten Essay über die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs verfasste und dabei auch die Effektivität der deutschen Methoden - Belohnung und Bedrohung - hervorhob, mit deren Hilfe die polnische Bevölkerung dazu gebracht werden sollte, versteckte Juden auszuliefern.[5] Bislang war dies zwar nicht rundheraus negiert, aber doch stets als ein marginales Phänomen behandelt oder gar abgetan worden. Grabowski kann hingegen zeigen, dass man es mit Tausenden und Zehntausenden von Juden zu tun hat, die der ersten Deportationswelle entkommen konnten und erst der anschließenden Judenjagd zum Opfer fielen. Dass etwa die polnische Polizei im Generalgouvernement zweifellos mehr zu verantworten hatte als nur die Regelung des Verkehrs, ist seit langem bekannt, aber dennoch ist der Forschungsstand dazu nach wie vor äußerst unbefriedigend - und dieser Eindruck wird durch Gross/Grudzińska-Gross und Grabowski noch zusätzlich verstärkt. Ähnliches wäre von einzelnen Angehörigen des sog. polnischen Baudienstes zu sagen, die ebenfalls an "Judenaktionen" beteiligt waren. Während die Kritiker von Gross'/Grudzińska-Gross' Buch weitgehend und noch häufiger ganz ohne inhaltliche Argumente auskamen, ist Grabowskis Band nicht ohne sachlichen Widerspruch aus der polnischen Zunft geblieben. Vor allem wurde ihm vorgeworfen, bei der Analyse von Handlungsoptionen der polnischen Landbevölkerung das Einschüchterungspotenzial der deutschen Besatzungspolitik unterschätzt zu haben, ebenso die Präsenz und damit den Einfluss der Deutschen in Form von ortsansässigen Volksdeutschen, Amtsinhabern etc. [6] In der Beurteilung der Einflussfaktoren gibt es sicherlich unterschiedliche Modelle mit unterschiedlicher hermeneutischer Reichweite, aber die Kritik geht doch an Grabowskis Untersuchung insofern vorbei, als er sich insbesondere und explizit für die Fälle interessiert, in denen Polen einen bedrückenden eigenen Verfolgungseifer entwickelten und sich damit den deutschen Besatzern ohne Not als Erfüllungsgehilfen andienten. An keiner Stelle geht es um das Verdikt über solche Polen, die sich aus Angst etwa um ihre eigenen Familien weigerten, Juden bei sich aufzunehmen. Zweifellos drohte für das Verstecken von Juden die Todesstrafe, die auch angewandt wurde. Zu oft und geläufig wird dieses Argument jedoch auch in der politischen Debatte verwendet, anstatt ein komplexeres Bild zu zeichnen, bei dem die Existenz deutsch-polnischer Kooperation oder neutraler: Interaktion nicht länger ausgeblendet bleibt. Insgesamt werden sich die Kritiker Grabowskis die Frage stellen müssen, ob es nicht eine Form des doublethink ist, auf der einen Seite Kollektivbegriffe wie "die Deutschen" weitgehend unkritisch zu verwenden, im Falle von tatbeteiligten Polen aber sofort nur von einigen wenigen Psychopathen zu sprechen, wo es sich keineswegs um kriminell-deviante Personen handelte, sondern mehrheitlich um bis dato unbescholtene Bürger, deren sozialer Kontext weiter erforscht werden muss. Wie Grabowskis Band entstammt auch Barbara Engelkings Untersuchung dem ausgesprochen produktiven Warschauer Polish Center for Holocaust Research, das in den letzten Jahren immer wieder mit neuen Themen und ambitionierten Projekten hervorgetreten ist; zuletzt haben Engelking und Grabowski gemeinsam über "Kriminalität" von Juden in Warschau 1939-1942 eine überzeugende Untersuchung vorgelegt. [7] Aus fast 400 Überlebensberichten sowie Gerichtsakten aus 300 polnischen Nachkriegsprozessen, in denen gegen Polen wegen Denunziation von bzw. Mord an Juden verhandelt wurde, kann Engelking für das gesamte Gebiet des Generalgouvernements ein sehr präzises Bild zeichnen, das in dieser Hinsicht noch über Grabowskis Band hinausgeht. Die Struktur ihrer Untersuchung folgt dem Prozess von der Verfolgung bis zum Mord bzw. - viel seltener - bis zur Befreiung 1944/45. Die Stationen des Leidensweges derer, die auf der Flucht vor der Verfolgung und Ermordung auf dem Lande Schutz und Hilfe suchten, waren vielfältig und doch voller beklemmender Übereinstimmungen: Flucht vor der Aussiedlung bzw. Liquidation eines Ghettos, das Umherirren auf der Suche nach einem Unterschlupf und der Kontakt mit der polnischen Landbevölkerung, der die Rettung oder den Tod bedeuten konnte. Überraschend ist die oftmals große Zahl der Stationen, da die Flüchtlinge häufig nur für wenige Tage aufgenommen wurden und dann weiterziehen bzw. erneut flüchten mussten. Vielfältig sind auch die Formen, bemerkenswert die Energie und der Einfallsreichtum, mit dem Juden um ihr Auskommen und Überleben kämpften. Dabei geht es Engelking durchaus nicht darum, die polnischen Gewinnler, Denunzianten oder gar Mörder anzuprangern, vielmehr vergisst sie auch die Retter und guten Menschen nicht und gelangt damit zu einem eindrucksvollen Panorama jüdischen Leidens und Bangens, dessen Lektüre ebenso wie Grabowskis Darstellung nicht selten erschütternd ist. Engelking zeigt auf diese Weise auch, dass der Beschäftigung mit diesem Thema in der Vergangenheit durchaus kein Quellenproblem entgegenstand - was vor allem die Kritiker während der Jedwabne-Debatte ad absurdum führt, die als Experten einzelner Regionen zum Teil jahrzehntelang das Thema ignorierten und mitunter wider besseres Wissen darauf insistierten, dass es keinerlei Übergriffe und Morde an Juden seitens der polnischen Bevölkerung gegeben habe. Allen drei Bänden liegt die ebenso bestürzte wie bestürzende Frage zugrunde, wie die Gewaltexzesse gegenüber den Juden, die damit verbundene Gleichgültigkeit und die gewissenlose Gier, sich das Hab und Gut der Nachbarn anzueignen, zu erklären sind; nicht minder erklärungsbedürftig ist allerdings die jahrzehntelange Fortschreibung des Mythos', demzufolge das polnische Dorf sich geschlossen der Verfolgung von Juden entgegengestellt habe. Auch wenn gegenwärtig nur gemutmaßt werden kann, ob man es nur mit der Spitze des Eisbergs zu tun hat, wird das Bild des >polnischen Bauern<, des >polnischen Dorfes< künftig anders gezeichnet werden müssen. Dass die Judenretter in Polen zahlreich waren, wird dadurch keineswegs in Abrede gestellt - alle drei Autoren betonen dies nachdrücklich. Ihre Zahl jedoch nicht allein aus der großen Zahl der in Polen 1939 lebenden Juden und den Spezifika der deutschen Okkupation abzuleiten, sondern aus einer vermeintlich höheren moralischen Integrität, wird fortan kaum aufrechtzuerhalten sein. Dasselbe gilt für den sattsam kolportierten Umstand, auf das Verstecken von Juden habe die Todesstrafe gestanden. Dies ist zwar richtig, aber bis es dazu kam, bedurfte es insbesondere in ländlichen Regionen mehrerer polnischer Akteure (des polnischen Denunzianten in der Nachbarschaft, des polnischen Dorfschulzen, des polnischen Gendarmen u. a.), die intentional auf eine solche Eskalation hinarbeiteten. Bei alledem frappiert den außenstehenden Betrachter auch etwas anderes: In Deutschland ist in den letzten Jahren kein geringer Forschungsaufwand auf die Frage nach dem Wissen der >Volksgenossen< über den Judenmord gerichtet worden, mit mehr oder minder überzeugenden Interpretationen bzw. Verallgemeinerungen. Die Situation war jedoch in den hier betrachteten Gebieten eine völlig andere: Die killing fields im Generalgouvernement waren in einem Maße in der Öffentlichkeit bekannt, das die Frage nach dem Umfang des Wissens weitestgehend sinnlos werden lässt. Es gab keinen Denunzianten, der nicht gewusst hätte, welches Schicksal einem entdeckten Juden drohte - oftmals wurden diese noch an Ort und Stelle ermordet. Die Debatte über diese Fragen ist gesellschaftlich ebenso vonnöten wie in der Geschichtswissenschaft, für die Gross seit der Jedwabne-Debatte ein ausgesprochen wichtiger Ideengeber und Fragensteller gewesen ist. Nicht vergessen werden sollte darüber jedoch auch, dass diese Debatte in Polen überhaupt geführt wird, und dass die polnische Forschung in den letzten fünfzehn Jahren Beachtliches geleistet hat, was sich von einer Reihe anderer ostmitteleuropäischer Staaten nicht unbedingt sagen lässt. Der französische Publizist und Historiker Jean-Yves Potel hatte das >Ende der Unschuld< in Polen schon 2009 in einem gleichnamigen Buch konstatiert,[8] insofern sind alle drei Bände trotz einzelner Schwächen im Detail ein wichtiger Anfang, auf dem sich theoretisch und empirisch aufbauen lässt. Und zu tun gibt es genug: So spezifisch die Situation in den ländlichen Regionen auch war, so sehr sind ähnliche Phänomene ebenfalls aus den Städten bekannt - zumindest Gross streift dieses Thema, vor allem die Erpresser (szmalcownicy), in seiner Parforce-Tour durchaus -, und namentlich das Kleinbürgertum war allenthalten für Antisemitismus empfänglich. Auch in anderen Territorien, insbesondere in den eingegliederten polnischen Gebieten wie dem Reichsgau Wartheland, den Regierungsbezirken Kattowitz und Zichenau sowie im Gebiet Białystok wären vergleichbare Handlungsmuster zu untersuchen, auch wenn die Handlungsspielräume wegen der größeren Zahl dort lebender Deutscher zweifellos enger waren und die Überlieferungslage kaum besser sein dürfte. Mit den Analysebegriffen "(jüdisches) Eigentum" und "(deutsch-polnische) Kooperation" sind zwei Forschungsfelder benannt worden, die hoffentlich helfen werden, von dem empirisch weitgehend wertlosen Topos der "Kollaboration" zu einem komplexeren Modell der Besatzungswirklichkeit im Generalgouvernement zu gelangen. Wer vor einigen Jahren gemeint haben mag, die Jewabne-Debatte werde nur kurzlebig sein, weil es sich um einen Einzelfall devianten Verhaltens gehandelt habe, dem wird nun aufgehen, dass die Debatte jetzt eigentlich erst beginnt.
Ingo Loose
[1] Vgl. zuletzt Stephan Lehnstaedt: Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939-1944. München 2010 [Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 82]. Siehe für die polnische Seite Tomasz Szarota: Warschau unter dem Hakenkreuz. Leben und Alltag im besetzten Warschau 1.10.1939 bis 31.7.1944, Paderborn 1985; das jüdische Alltagsleben dokumentiert Ruta Sakowska: Menschen im Ghetto. Die jüdische Bevölkerung im besetzten Warschau 1939-1943, Osnabrück 1999 [Clio in Polen, Bd. 2]. [2] Gerhard Gnauck: Holocaust als Schnäppchenjagd. Waren die Polen Nutznießer des deutschen Judenmords? Ein neues Buch von Jan T. Gross sorgt für Wirbel, ehe es erschienen ist, in: DIE WELT vom 25. Februar 2011, 26. [3] Gross/Grudzińska-Gross zitieren diesen Satz zweimal (121, 184) aus einem der Interviews, die Patrick Desbois in der Ukraine mit Angehörigen der Ortsbevölkerung führte. Vgl. Patrick Desbois: The Holocaust by Bullets. New York 2008, 97. [4] Jan Tomasz Gross: Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation. New York 2006. [5] Emanuel Ringelblum: Stosunki polsko-żydowskie w czasie drugiej wojny światowej. Oprac. Artur Eisenbach. Warszawa 1988. [6] Bogdan Musiał: "Judenjagd" czyli naukowy regres, in: Rzeczpospolita vom 5./6. März 2011, S. P18-P19; vgl. Grabowskis Replik: Wracając na obrzeża Zagłady, in: ebd. vom 12./13. März 2011, P22-P23. [7] Barbara Engelking/Jan Grabowski: "Żydów łamiących prawo należy karać śmiercią!" "Przestępczość" Żydów w Warszawie 1939-1942. Warszawa 2010. [8] Jean-Yves Potel: La fin de l'innocence : La Pologne face à son passé juif. Paris 2009 |